Deltasegel im "Windkanal"

Erfahrungen von B.J. Slotboom
(Versuch einer Übersetzung von Othmar Karschulin)

Hallo,

Fast alles, was über diese Riggvariante in den letzten Jahren gesagt und geschrieben worden ist, basierte auf Marchaj's Analysen, wie er sie in seinem Buch "Sailing Performance" beschrieben har. (zu Lesen unverzichtbar für jeden, der verstehen möchte wie Segel arbeiten). Marchaj verglich die Leistung einiger Riggs: Bermuda, Lateiner, Sprit, Gunter (Steilgaffel), Lugger und Krebsscherensegel. Er war besonders von der Leistung des Krebsscherensegels beeindruckt und hat es recht ausführlich beschrieben. Seine Ergebnis ist, daß dieses Segel auf eine völlig andere Weise Auftrieb erzeugt, als z.B ein Bermuda-Segel.

Seine Erklärung begründet er völlig auf der Analogie zu einem Deltaflügel, wie er auf Überschallflugzeugen, wie der Concorde verwendet wird. Solch ein Flügel kann eine Menge Auftrieb in den steilen Anstellwinkeln mittels der Wirbel erzeugen, die sich entlang seinen langen pfeilförmigen seitlichen Rändern entwickeln. Marchaj nennt dies "Vortex Lift". Er behauptet, daß ein Segel dieser Form keine Wölbung benötigt, da es keinen Bereich mit einer geraden Tragflächenkante gibt, der davon profitieren würde (Überschallflugzeuge benötigen dünne flache Flügel, ich bin aber sicher, daß etwas Wölbung entlang der Symmetrieachse vor allem bei niedrigen Geschwindigkeiten nicht sehr störend wirkt).
Ich denke Marchaj war auf dem falsch Weg, indem er seine Aufmerksamkeit völlig auf die Analogie zu einem Deltaflügel ausrichtete, und es ist ziemlich einfach, zu zeigen warum.

Zuerst zum "Vortex Lift". Wie wir bereits wissen, entstehen Wirbel immer an den oberen und untereren Lieken eines Segels. Sie sind eine unvermeidbare Nebenerscheinung des Auftriebs und verantwortlich für den dabei induzierten Widerstand. Wir wissen, daß ein Segel mit einem sehr niedrigen Seitenverhältnis wegen dieser Wirbel viel Auftrieb bei steilen Anstellwinkeln erzeugt. Ein Deltasegel verhält sich dazu prinzipiell nicht sehr unterschiedlich. Es handelt sich um den extremen Fall eines Segels mit sehr niedrigem Seitenverhältnis in dem Sinn, daß sich das obere und untere Liek an einem Punkt in der Mitte treffen. Der Auftrieb erzeugende Prozess ist aber nicht grundsätzlich verschieden.

Zurück zum Krebsscherensegel. Marchaj erläutert, daß ein echtes Delta am besten mit seiner Symmetriechse parallel zum Luftstrom wirkt. Jedoch zeigen seine Versuche im Windtunnel, daß ein angewinkeltes Deltasegel (wie üblich mit der Nase nach unten) eine bessere Wirkung bringt. Er begründet das mit einem vorteilhaften Zusammenwirken von Segel und Rumpf. Seine Tests zeigen weiterhin, daß die Fähigkeit Höhe zu laufen verbessert wird, wenn das Segel am Mast entlang in eine höhere Position gesschoben wird. Ich denken er übersah zwei grundlegende Faktoren: Wölbung und Seitenverhältnis.
Lassen Sie uns annehmen, das Segel ist flach geschnitten. Wird es mit der Symmetrieachse horizontal ausgerichtet, zeigt ein vertikaler Schnitt eine durch Winddruck erzeugte Kurve, ein horizontaler Schnitt aber eine gerade Linie. Zu den Spitzen sind die Querschnitte fast gerade. Was geschieht jetzt, wenn man das Segel anwinkelt? Die horizontalen Querschnitte zeigen eine Kurve, so daß das "flache" Segel durchaus eine Wölbung aufweist.

Das Seitenverhältnis wird dabei kaum beeinflußt, so daß die zu erreichende Leistung ungefähr gleich bleibt. Der Auftrieb aber wird bei niedrigem Anstellwinkel durch die Wölbung verbessert. Wird nun das Segel mehr aufgerichtet, verstärkt sich die Wölbung und erhöht sich das Seitenverhältnis. Resultat: Die Am-Wind-Eigenschaften verbessern sich auf Kosten der Geschwindigkeit.
Ich habe ein Modell eines Krebsscherensegels aus Aluminium angefertigt und diesem eine Biegung senkrecht zur Mittelachse gegeben (siehe Skizze oben). Es wurde in vier Neigungswinkeln getestet.

Das Ergebnis zeigt klar, dass in der horizontalen Position der maximale Auftrieb und in der steilsten Position der maximale Vortrieb erreicht wird.

Ich prüfte das Rigg so an einem Mast angebracht, so dass sich nur der Windeinfallswinkel änderte. Normalerweise ist der Segelhals (engl. forward tack) am Bug eines Auslegerbootes angebracht, die Spiere fest am Mast und nur der Baum kann sich frei nach außen sowie nach oben/unten bewegen. Bei kleinen Winkeln des scheinbaren Windes macht dieses keinen Unterschied. Steigt der Winkel aber bis zu 90 Grad an, trifft der Wind die Spiere im rechten Winkel. Im Prinzip genauso, als ob die Spiere senkrecht stünde, nur daß jetzt nicht nur Kräfte nach vorn und zur Seite sondern auch nach oben wirken. Um nun das Segel in einer "niedrigen" Position bei großen Einfallswinkeln zu halten, sollte der Segelhals in Richtung des scheinbaren Windes gedreht werden können.

Ich habe meine Tests gemacht, ohne auf eine Rumpf-Rigg-Interaktion oder den Windgradient Rücksicht zu nehmen. Als Ergebnis glaube ich aber sagen zu können, daß die Wirksamkeit des Krebsscherensegels mit denselben Faktoren (Wölbung, Seitenverhältnis, Form) erklärt werden kann, wie bei jedem anderen Segel auch. Sicher ist es ein sehr geniales Segel und, ohne Zweifel, das leistungsfähigste Rigg, das aus einem Mast, zwei Pfosten und einem Stück flachen Tuches gemacht werden kann. Und es ist das einzige Rigg, das eine variable Geometrie benutzt, um auf allen Kursen optimal zu wirken.

Ich wurde durch Marchaj's Deutung getäuscht, daß die Leistung eines flachen Segels durch die Dreiecksform anstatt durch eine Wölbung verbessert werden könnte. Tests zeigten, daß zwar der maximaler Auftrieb verbessert wurde (wegen der Wirbel), aber ebenso das Auftriebs-/Vortriebsverhältnis schlechter wurde (ebenfalls wegen der Wirbel). Also war die Idee ziemlich unbrauchbar.

Ein letztes Wort zum Seitenverhältnis und zu Wirbeln:
Wirbel sind immer dort, wo Auftrieb erzeugt wird. Wenn Sie ein hohes Auftriebs-/Vortriebsverhältnis wünschen, um gute Höhe zu laufen, sollten so wenig Wirbel wie möglich auftreten, weil sie für den verursachten induzierten Widerstand verantwortlich sind. Dieses ist auch eine schlechte Nachrichten für die "Vortex-Latten-Theorie" ("vortex batten theory" Anm. d. Übers.). Sollen Wirbel durch Vortex-Latten in kleinere Wirbel aufgelöst werden, um den Widerstand zu reduzieren, ist das Auftriebs-/Vortriebsverhältnis niedrig und die Am-Wind-Leistung wird geringer.
Für ein hohes Auftriebs-/Vortriebsverhältnis benötigen Sie ein niedriges Auftriebs-Höhen-Verhältnis, was ein hohes Rigg bedeutet. Ein Segel mit niedrigem Seitenverhältnis kann trotzdem ein hohes Auftriebs-/Vortriebsverhältnis haben, wenn man den Auftrieb niedrig hält (etwas Wölbung wie ein traditionelles Dschunkensegel mit kleinem Anstellwinkel). Wenn man eine max. Auftriebs- bzw. Widerstandskraft möchte und das Auftr.-bzw. Widerstandsverhältnis egal ist (für hohe Raumschots-Geschwindigkeit), benötig man soviele Wirbel wie möglich. Dann braucht man wieder ein großes Auftriebs-Höhen-Verhältnis, was wieder ein niedriges Rigg, das in großen Anstellwinkeln arbeitet.
Bernard Slotboom


Bilder zum benutzten "Windkanal" und weitere Grafiken in der eGroup JUNKRIGS
Diskussionsbeiträge dazu in der eGroup PROA_FILE

Meine Anmerkungen.


Ich denke die Grundaussage ist die, daß ein Krebsscherensegel (lang und schmal) gegenüber einem Deltasegel (mehr gleichschenklig) schon in der Geometrie Vorteile hat. Flach angeordnet ein niedriges Seitenverhältnis bei raumem Wind und steil aufgestellt ein hohes Auftriebs-/Vortriebsverhältnis für AmWind-Kurse.
Othmar Karschulin
Einige Erläuterungen, die mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurden:
Streckung bzw. Seitenverhältnis
Dies ist eine sehr wichtige Kennzahl, da man strenggenommen über die aerodynamische Güte von Auftriebskörpern nur bei Gleichheit dieser Kennzahl (neben der Gleichheit noch weiterer Kennzahlen) einen Vergleich vornehmen kann. Die Formel lautet: L = Spannweite/Fläche bzw. AR = span/area. Praxisbeispiel: Segelflugzeug ca. 30, Concorde kleiner als 1. Beim Bermuda-Segel ist Spannweite die Länge des Vorlieks.
Auftr.-bzw. Widerstandsverhältnis
Dieses Verhältnis ist ebenfalls eine wichtige Kennzahl für die aerodynamische Güte eines Auftriebskörpers. Praxisbeispiel: Ein Flugzeug startet beim besten lift/drag ratio, nicht bei der besten lift-drag force, da beim Start mit dem größten Gewicht der maximale Auftrieb bei minimalstem Widerstand notwendig ist. Die Landung erfolgt bei maximalem Auftrieb-Widerstand weil eine minimale Landegeschwindigkeit angestrebt wird.