Gibt es ein Mehrrumpfboot-Rigg?

Erklärungen über Riggs und Segel füllen Bände. Daher möchte ich hier nur auf die mehrrumpfboot-spezifischen Belange eingehen und ein paar Brücken zur Vergangenheit schlagen. Vielleicht kann man daraus was lernen.
Das Verhalten unter Segeln wurde bereits im Kapitel Seemannschaft behandelt.

Kurze Ausflug in die Historie

Die Entwicklung der Mehrrumpfboote im Pazifik hat sich unter dem Einfluss meist stetiger und stabiler Passatwinde vollzogen. Die begrenzten Ressourcen auf den Inseln haben ihren Teil dazu beigetragen, mit minimalem Aufwand eine maximale Wirkung zu erzielen. Geflochtene Palmblätter müssen oft bis heute als Segeltuch herhalten, Bambusmasten und Kokosfasertaue bilden Mast und stehendes/laufendes Gut. So wurden über Generationen Riggvarianten perfektioniert, die dieser Situation optimal gerecht werden. Zur Zeit der Entdeckungsreisen von Kapitän Cook und Co. waren diese archaischen Mehrrümpfer den klobigen Rahseglern in punkto Geschwindigkeit um Längen überlegen. Und gegen Ende der pazifischen Hoch-Zeit konnten 30 m lange Ndruas (Auslegerboote von Fidji und Tonga) oder ebensogroße Doppelrumpfboote gewaltige Lasten schnell und sicher über große Entfernungen ozeanweit transportieren.

 

Will man auch hierzulande von den grundlegenden Erkenntnissen einer Jahrtausende alten Erfahrung zu profitieren, muss man diese unter europäischen Gesichtspunkten betrachten, als da sind: böiger, ständig die Richtung und Stärke wechselnder Wind. Das macht es zur Zeit noch schwer, Deltasegel oder Krebsscherensegel in größeren Dimensionen auf Fahrten-Mehrrumpfbooten zu handhaben. Aber vielleicht wird es eines Tages doch noch gelingen eine europäische Adaption der pazifischen Riggs herbeizuführen. Denn in einem Punkt werden sie immer überlegen sein: Im Verhältnis Aufwand zur Wirkung.
Wer sich weiter für die mehr physikalische Seite dieser Segel interessiert:
Informationen zur Vortexbildung
vergleichende Prüfung von Segelvarianten

Als in der westlichen Hemisphäre erstmals Mehrrumpfboote auftauchten, gerieten die pazifischen Besegelungen, wahrscheinlich mangels Verständnis und aufgrund der "natürlichen" westlichen Überlegenheit, zugunsten des "modernen" Hochsegels rasch in Vergessenheit. Als dann auch der (Mono-) Regattasport mit seinem Regelwerk das Bermudarigg mit seinen überlappenden Vorsegeln favourisierte, waren alle anderen Riggformen schnell in die "altmodischen" Ecke verdrängt. Spätestens seit Marchaj's Untersuchungen wissen wir aber, daß diese "Mono-Kultur" völlig zu unrecht besteht. Auch das Sprietsegel und das Gaffelsegel können sehr wohl ebenbürtige Konkurrenten sein, ebenso wie ein Dschunkenrigg. Es kommt lediglich auf den Einsatzbereich und den möglichen Aufwand an, für den das richtige Rigg gefunden werden muss.

Das Mehrrumpfboot-Rigg heute

Die Entwicklung des Mehrrumpfboot-Riggs hat also jahrelang unter dem Einfluß der Entwicklung der Einrümpfer gelitten. Unsinnige formelschindende Riggs mit großen Vorsegeln sind Gift für schnelle Multis. Wie schon im Kapitel Seemannschaft erwähnt, segelt ein schnelles Mehrumpfboot meist am (scheinbaren) Wind. Diesem Zustand muss auch das Rigg Rechnung tragen. Also z.B. Topp-Takelung ade und große Vorsegel ade. Die Erklärung ist einfachst: Segelt man schnell und hart am scheinbaren Wind, fällt irgendwann der Wind so vorlich ein, daß sich eine Fock/Genua einfach nicht NOCH dichter holen läßt. Außerdem wird dann der Spalt zwischen den Segeln so schmal, daß der Winddruck des Vorsegels in das Großsegel bläst. Ein häufig in "freier Wildbahn" zu sehender Fehler.

Daher setzte sich auch, von den französischen Herstellern favorisiert, ein Rigg mit einer 7/8 oder kleineren Verteilung zwischen Mastlänge und Ansatzpunkt des Vorstags durch. Diese Aufteilung ergibt in etwa ein Verhältnis von 2 zu 3 zwischen Vorsegel und Großsegel. Die Fock kann zudem innerhalb der Wanten gut dichtgeholt werden. Ein Kompromiss zum Fahrtensegeln, der übergroße Großsegel vermeidet und z.B. als Selbstwendefock auf die Handhabung durch kleine Crews Rücksicht nimmt.
Die Entwicklung hin zum "gebackenen Profilsegel" mit einem möglichst großen Höhen-Breiten-Verhältnis, wie sie zunehmend auch auf modernen Fahrten-Multis (speziell Trimaranen) angeboten werden, zeigt die Tendenz auf. In Zeiten beengter Segelreviere werden Riggs mit einem großen Höhe-Potential benötigt, um schnell aufkreuzen zu können.
Auf raumen Kursen werden dann mit Hilfe von viel Zubehör der Gennaker, Blister, Code Zero oder Spi gesetzt, um damit dann das wenig brauchbare Großsegel wieder etwas aufzupäppeln. Ein Tummelplatz für Segelmacher und Marketingmanager (Pardon).
Wahr ist natürlich, das schmale hohe Segel weniger Turbulenzen am Top und am Baum haben und dadurch den meist vorlichen scheinbaren Wind besser in Vortrieb umsetzen. Vor allem das heute aktuelle "Squaretop"-Großsegel mit seinem stark ausgestelltem Topp bringt zusätzliche Segelfläche, beziehungsweise reduziert die Höhe des Segeldruckpunktes.

Einige Beispiele heute genutzter Mehrrumpf-Besegelungen (ohne Bewertung):
1. Standard-Bermudarigg topgetakelt
2. Kuttertakelung ala Prout
3. Gaffelrigg ala Wharram
4. 7/8 Takelung
5. Aerorigg
6. Squaretop mit/ohne Profilmast und SW-Fock

Das beste Segel ist ein leichtes Boot

Was ist nun das richtige Rigg für ein Mehrrumpfboot? Das gibt es natürlich nicht - bestenfalls ein Rigg für einen bestimmten Typ in einem bestimmten Revier mit einer bestimmten Crew usw. Aber es gibt immer den guten Kompromiss.
Die Basis sollte natürlich immer ein auf die Länge bezogen "leichtes" Mehrrumpfboot sein. Dort kann ein "sicheres" Rigg auch bei leichtem Wind für genügend Vortrieb sorgen. Was zeichnet nun ein sicheres Rigg aus? Der wichtigste Faktor ist die Höhe des Segeldruckpunktes über der Konstruktionswasserlinie, aus der sich (zum größten Teil) die Stabilität ableitet. Ein niedrigeres, bzw. kleineres Rigg bedeutet auch weniger Gewicht und einfachere Bedienung.

Das läßt sich leicht nachvollziehen, wenn man z.B. folgende 12 m Katamarane vergleicht:
a) Charterboot mit 4 Doppelkojen, 2 dicken Einbaumaschinen und Tankfüllungen für 1000 Liter Wasser und 500 Liter Diesel mit einer Verdrängung von an die 8 Tonnen
b) Eignerboot mit 2 Doppelkojen, 2 Außenbordern, gesamt 800 Liter Tankkapazität und einer Verdrängung von ca. 4 Tonnen
Bei einem brauchbaren Verhältnis der Segelfläche zur Verdrängung von 15 qm/t genügt dem leichten 4 Tonner eine Segelfläche von 60 Quadratmetern. Dagegen müßte das Charterboot schon nahezu unmögliche 120 Quadratmeter am Wind setzen. Oder andersherum, wenn der Eigner sein leichtes Boot bei 2 Beaufort mit 5 Knoten segelt, hat die Chartercrew noch/schon beide Maschinen laufen.

Die Entwicklung der Multihull-Bermuda-Riggs hat einen hohen Entwicklungsstand erreicht, der auch weniger geeigneten Booten brauchbare Geschwindigkeiten verleiht. Das darf aber nicht dazu führen, daß man darüber das Gesamtsystem "Mehrrumpfboot" vergißt. Jedem Multihuller (oder solchen die es werden wollen) muss immer vor Augen stehen, dass wie immer "Weniger" "Mehr" ist. Ein schweres Boot bedeutet ein größeres Rigg, das bedeutet mehr Gewicht, was mehr Segelfläche benötigt, usw. Je leichter das Boot, desto leichter und einfacher kann das Rigg sein - und natürlich auch billiger.

 

Gedanken zur Sicherheit

Das Mehrrumpfboot holt sich bekanntermaßen seine statische Stabilität aus der Bootsbreite, auf die der Hebelarm der Höhe des Segeldruckpunktes einwirkt. Die Breite zu vergrößern ist irgendwann nicht mehr sinnvoll. Bleibt übrig, die Höhe des Druckpunktes nach unten zu verändern, will man bei gleicher Stabilität mehr Segelfläche führen. Dies würde wiederum bedeuten, ein Großsegel mit kleinem Höhen-Breiten-Verhältnis zu fahren, was aber (siehe oben) zu Ungunsten des Amwind-Verhaltens führt. Theoretisch ein Teufelskreis, wenn man eine Hochtakelung zugrunde legt. Es geht aber auch anders. Bestes Beispiel dafür ist wiedereinmal die gute alte Kalia/Ndrua aus dem Tonga des 18. Jahrhunderts. Damals war die Breite aus Materialgründen begrenzt. Das niedrige Delta-Rigg bot neben der erhöhten Stabilität durch einen niedrigen Segeldruckpunkt auch größere Abspannwinkel bei der Verstagung. Damal bei Kokosfaserleinen ein wichtiger Aspekt - und heute?

James Wharram zeigt mit seinen modernen Gaffelsegeln, daß es durchaus möglich ist, auch mit niedrigen Segeln gut voranzukommen.

Was ein niedrigeres Rigg an Stabilität bewirkt, zeigt die einfache Annäherung über den maximalen Segeldruck. Wieviel einem so ein Sicherheitsgewinn an weniger Höhe am Wind Wert ist, muss jeder selber entscheiden (wieviel Höhe braucht der Mensch?). Natürlich ist auch gute Höhe laufen ein Sicherheitsaspekt (Legerwall), aber es fragt sich wie immer, wo der gute Kompromiss liegt. Meiner unmassgeblichen Meinung nach dort, wo ich jedes weitere Grad Höhe mit einem überzogenen Kapitaleinsatz bei der Segelanschaffung und übertriebenem Aufwand in der Bedienung erkaufen muss. Alle Regatta-Freaks sind natürlich von dem ökonomischen Aspekt freigestellt.

Zudem ist Geschwindigkeit nicht alles. Einfachste Bedienung ist für die heutigen 1-2 Mann (Frau) Crews oberstes Gebot, dem sich alles unterzuordnen hat. Ziel ist nicht die Endgeschwindigkeit, sondern der gute Durchschnitt. Und dieser ist nicht nur von der schieren Segelfläche, sondern auch von deren Bedienbarkeit abhängig.

Wer, weil übertakelt, dauernd bei wechselndem Wind reffen muss, wird irgendwann müde, vielleicht leichtsinnig und macht das nächste Reff zu spät rein. Überhaupt ist es wichtig darauf zu achten, daß ein Reff auch ein Reff ist. Eine Veringerung des Großsegels von 30 qm auf 25 qm macht wenig Sinn. Ein erstes Reff auf 20 qm, dann auf 10 qm. Nur so ist schnell und wirksam reagiert.

Auch wer, weil untertakelt, dauern den Motor anwerfen muss, macht sich letztlich von diesem abhängig und versaut dazu die Umwelt (bei hohem Frustrationspotential).

Was bringt die Zukunft?

Die Abfallprodukte für den Fahrtensegler aus der Regattaszene werden spärlicher, wer braucht am Fahrtenboot schon Spoiler. Im Sportbereich wird mit immer mehr Aufwand immer weniger erreicht. Public Relation-Multis mit über 30 Meter Länge und gigantischen Segelfächen bringen nur noch psychologische und physiologische Erkenntnisse über die Belastbarkeit der Crew sowie die Einsicht, daß alles irgendwann kaputtgehen kann.

Segel aus der Backstube als Weisheit letzter Schluss? Stellt sich nur die Frage welcher Sondermüll schwieriger zu entsorgen ist. Baumwolle und Flachs machen da weniger Probleme, aber zurück in die Vergangenheit ist natürlich auch keine Lösung. Vielleicht läßt sich mit den Eingangs erwähnten pazifischen Lösungen noch etwas anfangen? Deltasegel als Fahrtensegel auf dem Rasen hinterm Haus selbst geschneidert oder geklebt? Ein Alptraum für Segelmacher und doch seit Generationen bewährt. Vielleicht fehlt nur etwas Forschung in dieser Richtung. Marchaj hat den Anfang gemacht.

Alles ist erlaubt, was Spass macht

Und zu guter letzt dürfen auch die Freigeister nicht fehlen, ohne die die Multihull-Szene genauso langweilig wäre, wie die ...

Wer noch gute Beiträge oder Erfahrungen zum Thema "Riggs und -Segel für Fahrtenmultis" hat, bitte melden:

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